Troisdorf, den 22. März 2004

Trauerrede anlässlich der Beisetzung von Dieter

Dieter ist tot. Er starb am 11. März 2004 im Alter von 72 Jahren - nach schwerer Krankheit.

Dieter ist tot? Wer ihn gekannt hat, tut sich schwer damit. Auch wenn wir wussten, dass eine heimtückische Krebserkrankung ihn befallen hatte und sie die Unausweichlichkeit des Endes bedeutete, als es dann eintrat, mochten wir es am liebsten nicht glauben.

Es klingt vielleicht merkwürdig, aber das passte alles so gar nicht zu dem Dieter , der uns über Jahre und Jahrzehnte vertraut war. Diesem Dieter , der immer frohgemut, voll kraftstrotzender Gesundheit und ansteckender Vitalität die Höhen und Tiefen des Lebens meisterte. Diesem Dieter , dem man gerne zutraute, dass er uralt werden und vielleicht sogar noch manchen von uns überleben würde.

Es ist gut, dass wir nicht wissen, was uns geschehen wird und wie es geschehen wird. Aber selbst wenn es dann so sein sollte, dass die Unausweichlichkeit des Endes durch keine medizinische Kunst mehr hinweg zu therapieren und durch keine Maßnahme mehr hinauszuschieben ist, die Hoffnung, dass es anders kommen möge, stirbt zuletzt.

Dieter hat diese Hoffnung gehabt. Für ihn, der nie krank war, konnte es gar nicht anders sein, als diesen Kampf zu gewinnen. Aufgegeben hat er sich nicht. Er hat überhaupt nie aufgegeben.

Im Winter 1944/45 ist er mit seiner Mutter und dem kranken Zwillingsbruder aus dem sich zuziehenden Kessel von Breslau geflohen. Er war 13 Jahre alt, mit 14 hätte man ihn dabehalten, als Helfer bei der sinnlos gewordenen Verteidigung seiner Geburtsstadt. Der Vater war irgendwo im Kriegseinsatz. Die Familie verschlug es in den Bayerischen Wald. Man war dort nicht unbedingt willkommen, und es war schmerzhaft, mittellos zu sein, angewiesen auf die Großherzigkeit anderer Menschen, um überhaupt überleben zu können.

Dieter hat in dieser Zeit gelernt, was Entbehrungen sind. Was es heißt, nichts zu haben, und dennoch irgendwie überleben zu müssen. Es half auch nichts, dass der Vater, der die Kriegswirren überstanden hatte, glücklicherweise wieder zu ihnen stieß, denn es gab keine Arbeit für ihn. Und Dieter hat in dieser Zeit dann auch gelernt, was Helfen heißt, denn die wenigen, die es taten, fragten nicht nach Gegenleistung.

Es war die Perspektivlosigkeit dieser Lage, die sich nicht verbessern wollte, und die zunehmende Gewissheit, dass er der einzige war, der die Familie ernähren konnte, die dazu führten, dass Dieter sechs Jahre nach der Ankunft im Bayerischen Wald die Schule abbrach, ein Jahr vor dem Abitur, er, der Klassenprimus. Er folgte den Lockrufen der Kohlebergwerke im Ruhrgebiet, deren Emissäre überall im Land, vor allem unter den Flüchtlingen, kräftige Arbeiter für unter Tage warben. Dieter war kräftig, und er war 19 Jahre alt, als er nach Recklinghausen kam.

Dieter hat oft erzählt von dieser Zeit, der harten Arbeit in den Kohlegruben, dem Staub, der Erschöpfung. Aber es war für ihn Pflicht, die er nicht hinterfragte, denn die Familie, die ihm später nach Recklinghausen folgte, war auf sein Verdienst angewiesen.

Die schmutzige und schwere körperliche Arbeit kontrastierte mit seinem Bildungshunger, der seit seinen Schultagen im Bayerischen Wald eher stärker als schwächer geworden war. Seine Belesenheit machte auf die Kumpel, mit denen er in die Stollen fuhr, nicht wenig Eindruc Obwohl der Bergbau ihm mehr als genug Energie abverlangte, ging Dieter auf die Abendschule, um das Abitur nachzuholen. Er war 25, als er das Reifezeugnis in den Händen hatte. Fast zum gleich Zeitpunkt erhielt sein Vater eine Stelle in Bonn. Der Druck, alleine für die Familie sorgen zu müssen, wurde geringer.

Dieter hätte eine Karriere im Bergbau machen können. Er war intelligent, robust und packte an. Ihm hätten viele Türen offen gestanden. Aber er entschied sich anders. Die Lehrer im Abendgymnasium hatten ihm imponiert, und so reifte der Entschluss, zu studieren und selbst Lehrer zu werden.

Der Studienbeginn im Hauptfach Germanistik in Bonn im Wintersemester 1956/57 war für Dieter wie eine Befreiung. Es gibt ein Studentenlied, das dieses Gefühl widerspiegelt und Dieters liebstes war: "Student sein, wenn die Veilchen blühen". Drei Strophen davon wollen wir jetzt singen...

Befreiung: Nach der Härte und Düsternis der Arbeit unter Tage, die zugleich Enge und Begrenztheit für einen geistig interessierten Menschen bedeutete, erschien ihm der akademische Alltag geradezu als paradiesisch. In den Semesterferien allerdings kehrte er in die Kohlengruben zurück, um Geld für das Studium zu verdienen, bis es ihm eines Tages verwehrt wurde: Befund Staublunge.

Hinweise von Freunden und seine landsmannschaftliche Verbundenheit führten ihn gleich zu Anfang des Studiums zur alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks zu Bonn. Er fand Quartier auf dem Haus, und es wurde ihm mehr als nur Behausung. Der Burschenschaft blieb er bis zuletzt eng verbunden – und die Burschenschafter ihm. Die Raczeks sind ein Teil seines Lebens.

An hartes Arbeiten gewohnt, absolvierte Dieter ein rasches Studium. Seine spätere Frau Karin, die er schon in Recklinghausen kennen gelernt hatte, kreuzte auch in Bonn seinen Weg – und blieb an seiner Seite. Referendariat in Wuppertal, 1964 erste Anstellung als Lehrer am städtischen Gymnasium in Troisdorf, dann kamen die Kinder.

Die meisten von uns kennen ihn seit dieser Zeit. Und sie haben einen Menschen kennen gelernt, der sich nie verändert hat. Dieter hatte, als er sein Traumziel Lehrer endlich erreichte, eine harte Charakterschule hinter sich. Sie hat ihm Grundsätze eingemeißelt, an die er sich hielt. Materielle Güter, Reichtum gar bedeuteten ihm nichts. Er war auf solide Sicherheit bedacht, für sich, für seine Familie. Dafür war er immer bereit, sich dreimal krumm zu legen. Lebensqualität bemaß sich für ihn nicht nach Kategorien von Wohlstand und Luxus, sondern nach rechtschaffener Zufriedenheit und nach der Zahl und der Treue seiner Freunde, nach dem Wohlergehen derer, die ihm nahe standen.

Es gab nicht sehr viel, was Dieter wirklich wichtig war. Ganz oben standen die Familie, die Kinder. Die Söhne sind bei ihm aufgewachsen, was nicht immer einfach für ihn war, allerdings nicht nur für ihn. Sie und die Tochter, die bei der Mutter blieb, standen für ihn ganz oben auf der Prioritätenliste. Und auch für die schließlich erwachsenen Kinder war er immer da, wenn er gebraucht wurde. Viel Freude und Fröhlichkeit, aber auch Sorgen, Nöte, manchmal handfester Ärger – Dieter war seinen Kindern gegenüber nie nur Vater, er war gleichzeitig ihr engster Freund. Sie waren ihm wichtig, er war ihnen wichtig, wie wichtig, das haben die letzten Monate gezeigt.

Wichtig waren ihm auch seine Freunde. Er hatte viele, manche standen ihm näher, andere weniger. Aber er hat sie nie selektiert nach Wertschätzung. An seinen Geburtstagen füllte sich das Haus in der Heerstraße mit einer bunten Schar von Gratulanten. Dieter lud nicht ein, sie kamen auch so. Seine Gastfreundschaft war legendär. Es gab kaum einen Tag, an dem niemand ihm Gesellschaft leistete. Und am meisten freute es ihn, wenn ehemalige Schüler bei ihm auftauchten. Sie waren für ihn der stille Beweis, dass Unterricht mehr sein konnte als nur ein Lehrverhältnis. Und er war stolz darauf, wenn er sah, dass er ihnen nicht gleichgültig geworden war. Mit einigen von ihnen verband ihn eine besonders enge, jahrzehntelange Freundschaft. Es waren die ersten Schüler, die unter seiner Verantwortung als Klassenlehrer Abitur machten. Das war 1970. Seitdem gibt es die Oimler. Dieter war einer von ihnen.

Für Dieter war der Lehrberuf nicht nur Broterwerb. Er war Lehrer aus Leidenschaft. Er forderte und förderte seine Schüler, und sie sahen in ihm nicht den Pauker, sondern den Lehrer, der auch Kumpel sein konnte. Trotz aller flotten Sprüche, die ihm ständig über die Lippen kamen, nahm Dieter seinen Beruf ernst – auch wenn er nicht immer alles ernst nehmen konnte und wollte, was der Schulalltag so mit sich brachte. Er qualifizierte sich weiter, um neben den Fächern Deutsch und Sport auch Sozialwissenschaften lehren zu können, insbesondere Politi Und als er im Bayerischen Wald ein Ferienhaus baute, gab er zusätzlich Kurse auf der Volkshochschule, um die finanziellen Lasten schneller abtragen zu können. Es gehört zu den – von ihm selbst freilich nie eingestandenen – Enttäuschungen in seinem Leben, dass ihm der Schritt vom Oberstudienrat zum Studiendirektor verwehrt wurde. Es war für ihn keine Frage der Finanzen, sondern eine der Anerkennung.

Am wenigsten wichtig nahm Dieter sich selbst. Er konnte herzlich und herzhaft über sich selbst lachen. Die Scherze, die er über seine kleinen Fehler und Schwächen zu machen pflegte, waren kein "fishing for compliments", manchmal vielleicht – aber eher selten – ein Kokettieren mit den Unzulänglichkeiten, mit denen auch andere sich abzuplagen hatten. Er buhlte nicht um Lob und Anerkennung, aber sie taten ihm gut. Wenn man ihn auf seine wohlgeratenen Kinder ansprach, verriet sein Gesichtsausdruck, wie stolz er darauf war. Aber von seinem Anteil daran machte er kein Aufhebens, wie er überhaupt nie Aufhebens von sich machte. Vielleicht ist das das Geheimnis der ihm entgegengebrachten Wertschätzung gewesen. Man war nicht sein Freund, weil es einen Vorteil versprochen hätte. Man war es, weil man ihn – so wie er war – mochte, als Mensch, als ganz normaler, fröhlicher und dabei bescheidener Mensch.

Es gibt viele Adjektive, die einem spontan zu ihm einfallen: gesellig, ehrlich, geradlinig, bodenständig, fröhlich, unkompliziert, zuverlässig. Aber hinter der ansteckenden Jovialität verbarg sich eine hohe Sensibilität. Er sorgte sich um die, die ihm wichtig waren. Es machte ihn betroffen, wenn Freundschaften auseinander gingen. Wie vielen er geholfen, ihnen tröstend Beistand geleistet hat, wenn sie in Not gerieten oder mit Problemen zu ihm kamen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es eine seiner herausragenden Gaben war, zuhören zu können. Und dann wirkte sein schier unerschütterlicher Optimismus, der ihm selbst immer wieder über vieles hinweghalf, ansteckend auch auf die anderen, die ihr Päckchen zu tragen hatten.

Wo hatte Dieter seine Wurzeln? Es gab Werte, Begriffe, die ihm etwas bedeuteten. Nation, Vaterland, Heimat – das waren für ihn keine leeren Worthülsen. Seine Geburtsstadt Breslau, seine schlesische Herkunft waren Teil seiner Identität. Die Jahre im Bayerischen Wald haben ihn nachhaltig geprägt, trotz aller Not des täglichen Lebens. Die harte Zeit im Ruhrpott hat markante Spuren in seine Persönlichkeit hineingraviert. In der Bonner Studienzeit hat er nach den entbehrungsreichen Jahren zuvor erstmals auch die sinnenfrohe Seite des Lebens kennen gelernt. Und in Troisdorf schließlich war er die längste Zeit seines Lebens sesshaft, fast auf den Tag seines Todes genau 40 Jahre. Hat er hier Wurzeln geschlagen?

Ich glaube, Dieter selbst hätte lange gegrübelt, wenn wir ihm die Frage gestellt hätten. Und die Antwort, die er dann vermutlich darauf gegeben hätte, wäre keine der regionalen oder lokalen Verortung gewesen. Dieter war Patriot, aber kein Lokalpatriot. Der Untergrund, in dem er Wurzeln schlug, waren die Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Die meisten davon gibt es hier, und deshalb ist er hier am längsten geblieben.

Aber auch die Rückkehr in den Bayerischen Wald sagt etwas über diese Wurzeln aus. Sein Ferienhaus steht nicht weit von dem Ort, in den es die vor der Roten Armee flüchtende Familie seinerzeit verschlagen hatte. Es waren keine glücklichen Jahre, und dennoch hat es Dieter dorthin zurückgezogen. Und wieder sind es die Menschen gewesen, die wenigen, die ihm und seinen Angehörigen damals geholfen haben, die ihn ein Stück Wurzeln haben schlagen lassen. Es ist über die Zeiten hinweg nicht verdorrt, weil die dankbare Erinnerung es lebendig erhalten hat.

Jeder Mensch hat Fehler, jeder Mensch macht Fehler. Dieter ist da keine Ausnahme. Aber das Bild, das jeder von uns, die wir ihn kannten, persönlich von ihm in Erinnerung behalten wird, wird ein anderes sein. Es wiegt den Verlust nicht auf, aber es tröstet. Dieter, auch das mag uns trösten, hat seine wichtigen Ziele erreicht. Vor allem die Kinder nach guter Ausbildung gut positioniert und untergebracht zu wissen, hat ihn dankbar und zufrieden sein lassen. Und dass seine Tochter ihm schließlich im Herbst letzten Jahres eine Enkelin schenkte und ihn damit endlich, weil heiß ersehnt, zum Großvater machte, hat ihn glücklich gemacht.

Zu diesem Zeitpunkt war er schon nicht mehr gesund. Er hat sich gegen das, was da an ihm und in ihm zu nagen anfing, mit aller Gewalt gestemmt, versucht, dem Verfall seiner Kräfte zu trotzen. Es war ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass es ihm nicht mehr so gut ging. Aber es war auch nicht mehr zu verbergen. Dem Rat der Ärzte folgte er, wenn auch nur widerwillig und oft erst dann, wenn es absolut nicht mehr anders ging. Dieter konnte auch bockig sein.

Er musste kürzer treten, konnte keinen Sport mehr treiben, die vielen geselligen Treffen, die er stets so schätzte, wurden zwangsläufig weniger. Aber er versuchte es, solange es irgendwie ging, und es war für ihn im Angesicht des sich düster zusammenziehenden Horizonts mehr denn je ein Stück Flucht vor dem, was Dieter niemals in seinem Leben hat akzeptieren mögen: der Fremdbestimmung durch andere, durch anderes. Diesen Stolz hat er sich bis zuletzt erhalten.

In dem Studentenlied, das wir vorhin gesungen haben und das er am meisten schätzte, heißt es am Schluss der letzten Strophe: "Student sein, wenn der Sang verklungen, der deinem Lenz einst Flügel lieh, und jung du trotzdem mit den Jungen, dann war es recht, dann stirbst du nie."

In diesem Sinne bitte ich Sie, Dieter in Stille zu gedenken oder ein stilles Gebet für ihn zu sprechen. Danach singen wir das Lied "Nehmt Abschied, Brüder" und begleiten ihn dann auf seinem letzten Weg.

© by OImler

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